Stopp der Familienzusammenführung?
7 Fragen 7 Antworten

Bild: asylkoordination österreich
Die österreichische Bundesregierung will den Familiennachzug von Geflüchteten stoppen. Unserer Ansicht nach verstößt das nicht nur gegen grundlegende Menschenrechte, sondern wirft zahlreiche weitere Fragen auf. Wir gehen dem Thema in 7 Fragen und 7 Antworten auf den Grund.
Lukas Gahleitner-Gertz
1. Seit Wochen wurde nun der „sofortige Stopp des Familiennachzugs“ angekündigt: Wird nun Ende März die Familienzusammenführung für Asylberechtigte im Parlament beschlossen?
Nein. Bereits am Tag nach der Angelobung der VP-SP-NEOS-Regierung kündigte Bundeskanzler Stocker eine Verordnung des Innenministers an, mit der der Familiennachzug gestoppt werden soll. Das Problem dabei: Damit der Innenminister eine Verordnung erlassen kann, braucht er eine gesetzliche Ermächtigung dazu. Diese gesetzliche Ermächtigung gibt es in Österreich (noch) nicht und stünde auch in einem massiven Spannungsverhältnis zum Recht auf Familienleben. Die Grundlage für das Recht, mit seiner engsten Familie zusammenleben zu können, ergibt sich einerseits aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Österreich im Verfassungsrang steht, und andererseits aus der Familienzusammenführungsrichtlinie der Europäischen Union.
Letztere wurde 2003 von Österreich von der damaligen ÖVP-FPÖ-Regierung (!) mitbeschlossen: Darin heißt es, dass „Maßnahmen zur Familienzusammenführung (…) in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden [sollten], die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist.“
Im Erwägungsgrund 4 der Richtlinie sind die Gründe angeführt, warum ein gemeinsames Familienleben nicht nur aus humanitären Gründen ermöglicht werden muss, sondern dies auch aus gesellschaftspolitischer Perspektive sinnvoll ist: „Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird.“
Die Richtlinie ist sogenanntes EU-Sekundärrecht und ist somit von den Mitgliedstaaten wie Österreich, das ja die Richtlinie mitbeschlossen hat, verpflichtend umzusetzen. Das EU-Recht sieht aber eine Ausnahmebestimmung im sogenannten Art 72 AEUV vor: Die Notfallsklausel.
Die Notfallsklausel sieht vor, dass die EU-Mitgliedstaaten EU-Recht wie zB die Familienzusammenführungsrichtlinie dann nicht einhalten müssen bzw davon abweichen können, wenn die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ und der „Schutz der inneren Sicherheit“ gefährdet sind.
Um diese Notfallsklausel zu aktivieren braucht es aber keinen „Brief nach Brüssel“, sondern einen innerstaatlichen Rechtsakt wie ein Gesetz oder eine Verordnung. Diese Möglichkeit gibt es aber nach dem österreichischen Recht nicht (Stand Anfang 2025).
Am 26.03.2025 wird daher ein sogenannter Initiativantrag im österreichischen Nationalrat eingebracht, mit dem das Asylgesetz geändert werden soll. Es wird eine Regelung eingeführt, mit dem die Bundesregierung ermächtigt wird, im Notfall eine Verordnung zu erlassen, die es erlaubt, vom EU-Recht im Hinblick auf die Familienzusammenführung abzuweichen.
Es wird Ende März 2025 daher noch gar nichts im Parlament beschlossen, sondern nur ein parlamentarischer Vorgang gestartet. Am Schluss dieses parlamentarischen Vorgangs soll nach Willen der Regierung eine Regelung stehen, mit der es möglich sein soll, eine Verordnung zu erlassen, mit dem Anträge auf Familienzusammenführung (zumindest vorerst) nicht entschieden werden.
2. Ab wann gilt dann der angekündigte Stopp der Familienzusammenführung?
Eine Einigung der Regierungsparteien vorausgesetzt, kann frühestens Ende April eine Änderung des Asylgesetzes in Kraft treten, auf dessen Grundlage die Bundesregierung eine Verordnung erlassen kann, mit der ein vorübergehender Stopp der Familienzusammenführung angeordnet werden kann. Da es sich um eine Notverordnung handelt, ist Voraussetzung, dass tatsächlich auch ein Notfall vorliegt. Dieser Notfall muss bei Erlassung der Notverordnung begründet werden und in einer funktionierenden Demokratie auch einen öffentlichen parlamentarischen Begutachtungsprozess durchlaufen. Sollte alles nach Wunsch der Regierungsparteien verlaufen, könnte daher eine Verordnung noch vor dem Sommer 2025 in Kraft treten.
3. Was bedeutet „Stopp“ und gilt dieser für alle Fälle?
Eine Einigung der in Wien regierenden Parteien SPÖ und NEOS sowie der seit 25 Jahren im Innenministerium regierenden ÖVP auf das Vorliegen eines Notfalls vorausgesetzt, würde mit einer Verordnung geregelt werden, dass die Botschaften im Ausland zwar Einreiseanträge weiterhin annehmen müssen. Die Entscheidungspflicht der Behörde wird aber für die Dauer der Verordnung ausgesetzt und die grundsätzliche gesetzliche Frist von 6 Monaten, binnen derer die Behörde entscheiden müsste, gehemmt. Das bedeutet, dass die Behörde hier vom geltenden EU-Recht abweichen muss und die Pflichten, die sich aus der EU-Richtlinie ergeben nicht beachten darf. Das gilt aber jedenfalls nicht für alle Fälle: In Fällen, in denen das Recht auf Achtung des Familienlebens sehr stark wiegt, hat die Behörde auch weiterhin binnen 6 Monaten ab Einreiseantrag den Fall zu entscheiden. Das wird jedenfalls in Fällen unbegleiteter minderjähriger Geflüchtete, die mit ihrer Mutter oder ihrem Vater zusammenleben wollen, oder auch in Fällen langer Trennung zwischen den Familienmitgliedern gelten müssen.
4. Wie lange dauert dieser Stopp, falls er beschlossen wird?
Wenn per Gesetz vom Nationalrat eine Notverordnungsermächtigung beschlossen wird, dann kann eine Verordnung mit einer Gültigkeitsdauer von 6 Monaten erlassen werden. Im konkreten Fall sieht die jetzt von den Regierungsparteien eingebrachte Gesetzesnovelle aber vor, dass die gesetzliche Verordnungsermächtigung automatisch per 30. September 2026 außer Kraft tritt. Unter der Voraussetzung, dass diese Dauer nicht verlängert wird, ist davon auszugehen, dass eine Notverordnungsermächtigung spätestens im Oktober 2026 nicht mehr gilt.
Der Stopp kann aber auch früher beendet werden: Zwingende Voraussetzung für die Notverordnung ist das Vorliegen einer gesamtstaatlichen Notlage und dass die von den Regierungsparteien beschlossene Regelung verfassungskonform ist.
Sollte der Verfassungsgerichtshof anhand eines Einzelfalls die Verordnung und eine Verfassungswidrigkeit erkennen oder der Europäische Gerichtshof mit den zweifellos bestehenden massiven europarechtlichen Fragen vom Bundesverwaltungsgericht befasst werden könnte der intendierte Stopp rascher aufgehoben werden.
5. Liegt überhaupt ein „Notfall“ vor, der es erlaubt, vom geltenden Recht abzuweichen?
Nach Betrachtung der bisherigen maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist diese Frage klar zu verneinen. Bislang ist es noch keinem Mitgliedstaat gelungen, sich erfolgreich auf die sogenannte Notfallsklausel zu berufen. Es ist unbestritten, dass es vor allem in manchen Wiener Pflichtschulen aufgrund der großen Anzahl vertriebener Kinder aus der Ukraine und jener vor allem syrischer Kinder, die über den Familiennachzug nach Österreich gekommen sind, zu Druckstellen und Problemen gekommen ist.
Es handelt sich dabei aber vor allem um ein regionales und um kein gesamtstaatliches Problem. Das EU-Recht sieht nicht vor, wie sich ein Staat intern organisieren soll. Entscheidet sich also ein Staat wie Österreich für eine föderale statt zentralistische Struktur, so mischt sich die Europäische Union nicht ein. Erwachsen aber aufgrund mangelnder Kooperation der föderalen Elemente Probleme wie z.B. mangelnde Verteilung von Geflüchteten so rechtfertigen diese hausgemachten Unzulänglichkeiten nie die Ausrufung eines Notstands, der aber Voraussetzung für die Abweichung von EU-Recht ist.
6. Die Probleme im Bildungsbereich sind doch evident: Die Anzahl der außerordentlichen Schüler:innen, also jenen, die dem Unterricht nicht folgen können, beträgt in manchen Wiener Volksschulen über 40%. Ist das kein Notstand?
Wirklich aufrüttelnd sind die Zahlen außerordentlicher Schüler:innen in den 1. Klassen Volksschule in Wien. Von insgesamt 18.700 Schüler:innen sind etwa 8.300 außerordentliche Schüler:innen, die aufgrund mangelhafter oder unzureichender Deutschkenntnisse dem Unterricht nicht folgen können. Das entspricht 45 Prozent aller Volksschüler:innen. 
Das Bild ändert sich aber drastisch bei Betrachtung der übrigen Klassen in der Volksschule (2. Bis 4. Schulstufe): Der Anteil außerordentlicher Schüler:innen ist von 45% auf durchschnittlich 13% gesunken.

Betrachtet man nun die ersten Klassen Volksschule österreichweit außerhalb von Wien so beträgt der Anteil außerordentlicher Schüler:innen insgesamt 8%. Das bedeutet, 8 von 100 Schüler:innen sind außerordentliche Schüler:innen – auf Klassengröße (25 Schüler:innen) sind das 2 pro Klasse Volksschule.

Es handelt sich um ein Verteilungsproblem: Wien erledigt die Hauptarbeit der Integration in Österreich, was zum Teil auf die in der einzigen Großstadt des Landes lebenden Communities, auf den dort zugänglichen Wohnraum und die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme ohne fortgeschrittene Deutschkenntnisse zurückzuführen ist.
Betrachtet man die Verteilung der außerordentlichen Schüler:innen im Pflichtschulalter in Österreich sieht man eine relativ ausgewogene Verteilung über das Bundesgebiet. Eine gesamtstaatliche Notlage ist beim schlechtesten Willen nicht erkennbar.

Kommen wir aber nochmals zurück zu den ersten Klassen Volksschulen in Wien: Betrachtet man die Daten zum Geburtsland der Erstklässler:innen genauer ist festzustellen, dass über 5.000 der 8.300 außerordentlichen Schüler:innen in Österreich geboren sind. Bei über 60% der außerordentlichen Schüler:innen gibt es offenkundig keinen unmittelbaren Bezug zum Familiennachzug über das Asylverfahren.

Selbst unter Annahme, dass alle Erstklässler:innen syrischer Herkunft außerordentliche Schüler:innen seien (was sich aus der Anfragebeantwortung des damaligen Stadtrats Wiederkehr mangels Aufschlüsselung nicht ergibt), so sind dies etwa 1.500 Schüler:innen. Das mag zweifellos eine Herausforderung für das Bildungssystem sein und Maßnahmen erfordern, 1.500 Schüler:innen sind aber jedenfalls eine sehr mangelhafte Grundlage für die Ausrufung einer gesamtstaatlichen Notlage in Österreich.
7. Bundeskanzler Stocker hat aber von weiteren 20.000 Familienzusammenführungen gesprochen. Wäre das nicht eine weitere erhebliche Bedrohung des Schulsystems?
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass BK Stocker diese Aussage im Boulevardmedium „Heute“ unter dem Beisatz von sich gegeben hat, dass es sich um eine theoretische Zahl handelt. 
Tatsächlich hat sich die Anzahl anhängiger Einreiseantragsverfahren über die Familienzusammenführung von 6.300 auf ca 3.400 in etwa einem Jahr fast halbiert. Dies hängt vor allem mit den zahlreichen eingeleiteten Aberkennungsverfahren von syrischen Asylberechtigten in Österreich zusammen. Wird ein Aberkennungsverfahren eingeleitet so ist das Familienzusammenführungsverfahren gestoppt und der Antrag wird von der Botschaft abgewiesen.
Die Zahl der tatsächlich erfolgten Einreisen über die Familienzusammenführung hat sich in den letzten Monaten massiv reduziert. Im Monat Februar 2025 hat es nur mehr etwa 60 tatsächliche Einreisen infolge Einreisegestattung über die Familienzusammenführung gegeben.

Aufgrund der volatilen Situation in Syrien ist momentan noch nicht absehbar, wann die erstinstanzliche Behörde wieder Verfahren syrischer Staatsangehöriger entscheiden wird. Es ist aber davon auszugehen, dass selbst im Falle der Wiederaufnahme von Entscheidungen verstärkt der Aufenthaltsstatus subsidiärer Schutz vergeben wird. Anders als Asylberechtigte haben subsidiär Schutzberechtigte erst nach drei Jahren Aufenthalt das Recht ihre engsten Familienangehörigen nachzuholen. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass in der näheren Zukunft eine große Anzahl von Personen nach geltender Rechtslage den Anspruch haben wird, ihre Familienangehörigen nach Österreich zu bringen. Die Annahme einer Gefährdung der Gesellschaftssysteme ist daher schon auf dieser Ebene lebensfremd.
Weiterlesen:
- asylkoordination österreich, 09.04.2025:
Stellungnahme zur Notverordnungsermächtigung "Stopp der Familienzusammenführung"
- Appell an Regierung: Familien gehören zusammen! Presseaussendung vom 26. März 2025
- Allgemeine Informationen zur Familienzusammenführung
- Welche Erfahrungen haben Betroffene gemacht? Hier geht's zu unserer Serie Meine Familienzusammenführung - Erzähl uns deine Geschichte!
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