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18.10.2023

Oben von Dimitri Dínev

Der Schrifsteller Dimitri Dínev hat uns für den "Langen Tag der Flucht" einen sehr schönen, lyrischen Text zur Verfügung gestellt.
Oben...
 

Oben
von Dimitri Dínev

Masud schaut gerne in den Himmel, wo die Sterne sind, wo die Wolken
sind, wo viel Platz zum Träumen ist, denn er träumt davon eines Tages
Pilot zu werden. Masud hat Erfahrungen gemacht,
wofür man gewöhnlich drei Leben braucht,
dabei ist er noch ein Kind. Seine Kindheit ist aber zerronnen,
verschlungen von dem kargen Boden des väterlichen Hofes in
Afghanistan. Und was davon übrig geblieben ist, wurde unterwegs
verschüttet. Mal in einem Krämerladen in Pakistan, mal in einer Backstube
im Iran, mal durch das Schaukeln der Lastwägen, die ihn durch die Türkei
schmuggelten oder jenes der Boote, die ihn nach Griechenland, später
nach Italien bringen sollten.
Seine Kindheit ist zerronnen zwischen zwei Kontinenten, versunken in
Erde und Wasser und Sand. Das Schicksal hat ihn mehrmals geprüft, nun
prüfen ihn die österreichischen Beamten. Aber worüber prüft man ein
Kind? Worüber prüft man ein Kind, dessen Vater ermordet in Afghanistan
und dessen Mutter krank in Pakistan liegt. Worüber prüft man ein Kind,
das schon mit zehn Jahren arbeiten und mit 14 die halbe Welt allein
durchreisen musste, das Gegenden und Verhältnisse kennen gelernt hat,
die seine zukünftigen Geografie- und Geschichtslehrer nur von Landkarten
und Büchern kennen. Worüber prüft man ein Kind, dessen Lehrer die Not
und das Elend waren, das die strengsten Prüfungen der Welt schon
bestanden hat. Und sogar wenn es sie nicht bestanden hätte und
bestehen müsste, worüber prüft man eigentlich ein Kind. Was muss es
vorweisen um dann entscheiden zu können, ob es in einer Gesellschaft
aufgenommen wird oder nicht. Verhält es sich nicht eher umgekehrt?
Eigentlich prüft jedes Kind die Gesellschaft. Wie reich sie ist, wie sozial,
wie entwickelt, wie barmherzig, wie gut. Denn danach wie wichtig einer
Gesellschaft die Kinder sind, kann man ermessen, wie wichtig ihr auch die
Zukunft ist. Anscheinend bekommt ein Kind leichter einen Platz im Himmelreich
als Asyl in Österreich.
Masud ist ohne Eltern nach Österreich geflohen, er ist noch ein Kind, und da
er noch ein Kind ist, träumt er gerne. Er will Pilot werden. Er ist auf seiner
Flucht gelaufen und gefahren und geschwommen.
Nun will er fliegen. Denn von dort oben schauen so klein und
so unsichtbar all jene Menschen aus,
die über sein Schicksal entscheiden wollen.


Dimitré Dinev (* 1968 in Plowdiw, Bulgarien) ist ein Schriftsteller, Theater- und Drehbuchautor deutscher Sprache.
Er verbrachte seine Kindheit in der Stadt Pasardschik und machte seine Matura 1987 am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Pasardschik. 1990 floh er über die Grüne Grenze nach Österreich, wo er sich die folgenden Jahre mit Gelegenheitsjobs durchbrachte und in Wien Philosophie und russische Philologie studierte. Seit 1991 schreibt Dimitré Dinev in deutscher Sprache Drehbücher, Erzählungen, Theaterstücke und Essays.
Seinen literarischen Durchbruch schaffte er 2003 mit seinem Familienroman Engelszungen, der europaweit mit großem Interesse aufgenommen wurde.


Dimitré Dinev wurde 2016 mit fünfzehn anderen Autoren durch eine Fachjury für die Publikation schreibArt AUSTRIA ausgewählt, einem Literaturprogramm der Kultursektion des Außenministeriums, wodurch im Rahmen der österreichischen Auslandskulturpolitik ein Beitrag dazu geleistet werden soll, dass das heutige Österreich in der Welt auch als ein Land mit viel bemerkenswertem literarischen Schaffen wahrgenommen wird.
Der so Geehrte erwies und erweist sich bei vielen Gelegenheiten auch als Kritiker der österreichischen Politik und als ein Anwalt und Fürsprecher der Geflüchteten und Migranten.

So auch im Verein Ariadne, wo Dinev im Vorstand sitzt.



Verein Ariadne - Wir Flüchtlinge für Österreich
"Wir vom Verein „Ariadne – Wir Flüchtlinge für Österreich“ kümmern uns darum, dass die Stimmen und Anliegen der Geflüchteten gehört werden. Als Verein von Menschen mit Fluchterfahrung gehört es zu unseren Hauptaufgaben und Zielen, die öffentlichen Bilder zu Flucht und Geflüchteten zu korrigieren. Wir setzen den Bergen von Vorurteilen und Lügen, die dieses Thema begleiten, die Echtheit unserer Erfahrungen, die Wahrhaftigkeit unserer Existenz entgegen. Wir stellen der Einseitigkeit der Berichterstattung unsere Vielseitigkeit, den endlosen Monologen der Hetzer unsere Bereitschaft zum Dialog gegenüber. In einen Dialog treten, bedeutet, andere anzuerkennen und sich selbst erkennen zu geben, auf Gewalt zu verzichten, zu einem Gleichen zu sprechen. In einen Dialog treten, bedeutet, die Gerechtigkeit anzuerkennen. Der Dialog ist die Schule zur Menschlichkeit.

Manchmal braucht es wenig, um in der neuen Heimat ein Leben in Würde zu finden, die Nostrifizierung eines Diploms, einen Kurs, der zum Erlernen von zusätzlichen handwerklichen Techniken verhilft, das Gewöhnen an neue Arbeitsinstrumente und Bedingungen, das Sortieren der eigenen Diplome nach vor Ort gültigen Kriterien. Oft braucht es aber viel, um an einem monströsen Berg aus bürokratischen Hürden, Vorurteilen und Feindseligkeiten nicht zu verzweifeln. Der Verein „Ariadne“ ist ins Leben gerufen worden, um zu helfen, den Faden nicht zu verlieren. Der Faden, der zurück ans Licht führt.
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